Eine gute Freundin von mir ist Kemetin (altägyptisches Heidentum) und hat sich mal hingesetzt, ein paar grundlegende Dinge darüber zusammenzuschreiben. Was ich Euch nicht vorenthalten möchte.
Kemetismus - Versuch einer Zusammenfassung
Der Begriff Kemetismus kommt von "Kemet", der Eigenname des Alten Ägypten. "Kemet" bedeutet so viel wie "das schwarze Land" und nimmt Bezug auf den schwarzen Nilschlamm, den die alljährlich wiederkehrende Nilflut mit sich brachte um die ausgedörrten Felder nach der Trockenperiode in fruchtbare Felder zu verwandeln.
Das Prinzip der Ma'at
Die Grundlage des Kemetismus bildet ein moralisches Konzept names Ma'at, welches oft mit "Balance", "Weltenordnung", "Gerechtigkeit" oder "Wahrheit" übersetzt wird. Der Begriff ist sehr abstrakt und lässt sich nur sehr schwer in seiner Gänze erfassen. Es durchzieht sämtliche Sphären des Lebens, wie die Schöpfung, das soziale Leben und den Zyklus von Leben und Tod.
Wenn man sich einmal überlegt, wie die kemetische Religion entstanden ist, muss man zu Ma’at als soziales Prinzip, schon gar nicht mehr viel erklären. Vieles lässt sich dann bereits intuitiv erfassen.
Als in der prädynastischen Zeit die nordafrikanische Wüste austrocknete, waren die vielen nomadisch lebenden Stämme gezwungen näher an die große grüne Oase zu rücken, die sich um den Nil konzentrierte. Dort sorgten jährliche Überschwemmungen verursacht durch die Monsunregenfälle im äthiopischen Hochland für Fruchtbarkeit. Um das lebensspendende Wasser auch weitläufig und effektiv nutzen zu können, begriffen die Menschen am Nil schnell, dass sie nur überleben konnten, wenn sie zusammenarbeiteten und einander halfen. Dies ist die Geburtsstunde der Ma’at.
Dabei formuliert die Ma’at lediglich ethische Richtschnüre und kein starres Regelwerk. Ma’at ist vielmehr eine dynamische Balance zu deren Gelingen jeder beitragen kann und muss. Daher beruht die Ma’at in erster Linie auf selbstständigem vorausschauendem und gemeinschaftsorientiertem Denken, nämlich darüber was richtig, gut und nachhaltig im Sinne des sozialen Miteinanders und dadurch im Sinne des Erhalts der Schöpfung ist. Dieses Prinzip erhält seine spirituelle Größe u.a. dadurch, dass es über den Tod hinausreicht und mythologisch in Form des Totengerichtes einen ethischen Fluchtpunkt des Handelns erhält, der sich jenseits aller physischen Existenz befindet. So ist der einzelne stets angehalten sein Handeln, sein Denken und seine Worte fortwährend zu prüfen.
Um Ma’at als Prinzip der Schöpfung zu begreifen, ist es wichtig zu verstehen, dass die Götter Ägyptens nicht in einer Sphäre fernab der menschlichen Welt existierten, sondern in der Natur – um nicht zu sagen, die Götter waren die Natur selbst. Die kemetische Religion ist keine Religion im eigentlichen Sinne, denn ein „religio“ – also eine Rückverbindung an das Göttliche – war praktisch nicht erforderlich, waren doch die Götter allgegenwärtig und greifbar. Die Vorstellung der Kemeten von der sie umgebenden Schöpfung war, dass sie in unendlich vielen ineinandergreifenden Zyklen funktioniere und diesen unzähligen Zyklen ein initialer Akt, also ein „erstes Mal“ vorausging. Ds sog. "Zep-Tepi". Die Kosmongonie ist also kein Akt eines immanenten Schöpfers, sondern ein Vorgang des Sich-selbst-Entfaltens. Damit ist die Schöpfung vielmehr ein Prozess, der fortwährend aufs Neue beginnt, gelingen muss und als solcher auch stets erneut vom Scheitern bedroht ist. Dies führt dann zum antagonistischen Prinzip von Ma’at, nämlich Isfet, welches oft mit „Chaos“ übersetzt wird, aber an Dramatik und Destruktivität doch weit über diesen Begriff hinausgeht. Das schöpferische Potential muss also in eine Form fließen, eine Ordnung, so dass diese Schöpfungskraft in greifbare Erscheinung treten kann. Diese Ordnung ist Ma’at. Man kann sich also den Verlauf des Schöpfungsprozesses in etwa wie einen Dominoeffekt vorstellen.
Kemetische Praxis
Ein zentrales Element der kemetischen Praxis bildet der Schrein. Er dient als heiliger Ort, private Kultstätte und magischer Arbeitsplatz.
Um die Bedeutung dieses heiligen Ortes besser zu verstehen, ist es sinnvoll sich mit dem Begriff “Ikonodulie(=Bilderverehrung)” zu befassen. Für viele, die in einem christlichen Umfeld aufgewachsen sind, ist es mit ambivalenten Gefühl besetzt Bilder oder Statuen zu beherbergen, Kultorte zu unterhalten bzw. Kultgegenstände zu verwenden. Das biblische “Du sollst Dir kein Bildnis machen.” geistert noch in vielen Köpfen herum. Gerade aber für die kemetische Tradition kann man diesen Grundsatz ins genaue Gegenteil verkehren, nämlich “Du SOLLST Dir ein Bildnis machen – am besten sehr viele Bildnisse, je mehr desto besser”. Im Kemetismus sind Statuen, Bildnisse, ja sogar Schriften Träger göttlicher bzw. vergöttlichter Entitäten. Das Bildnis wird wie die jeweilige Gottheit selbst behandelt und bedarf dementsprechender Riten und Gebräuche – und vor allem natürlich seinen eigenen geschützten Raum.
Zur Schreinarbeit gehören tägliche Ritual, die individuell sehr unterschiedlich sein können. Das können kleine Gebetszeremonien sein um z.B. die Sonne zu begrüßen, tägliche Opferungen von Speisen und Getränken oder kleine Geschenke, Reinigungsrituale, Räucherungen usw. Als Mensch "sorgt" man für das Wohlergehen der Götter damit sie einem wohlgesonnen bleiben und den Lauf der Dinge positive beeinflussen.
Altägyptische Magie - die Praxis des Heka
Heka ist in die ägyptische Religion vollkommen eingebettet, beides gehört untrennbar zusammen. Im Alten Ägypten, wie auch im modernen Kemetismus war und ist Heka allgegenwärtiger Teil des Alltags und damit nichts Außergewöhnliches. Auch ist es weder “gut” noch “böse” sondern vielmehr ein neutrales Werkzeug, das ganz selbstverständlich genutzt wird. Das wird vielleicht noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, was Heka im Grundsatz ist, nämlich nichts anderes als eine Personifikation der reinen ursprünglichen Schöpfungskraft. Diese Kraft steht wiederrum im Kontext einer Schöpfung, die sich nicht als einmal vollbrachtes Werk versteht, sondern als ein fortwährend andauernder Prozess, an dem alle lebenden Wesen tagtäglich teilnehmen. So ist es eben auch geradezu eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Mensch in der Lage ist die Schöpfungskraft selbst zu nutzen und dabei auch die Grenzen des unmittelbar Greifbaren zu überschreiten. Was den Göttern wesenhaft zu Eigen ist, ist damit auch für den Menschen unter bestimmten Voraussetzungen erreichbar und nutzbar.
Heka ist eine gestaltende und gestalterische Kraft. Sie tritt nicht nur in der Schöpfung selbst durch das Wirken der Götter in Erscheinung, sondern manifestiert sich letztlich auch in der menschlichen Kreativität, ganz gleich in welchem Bereich. Sie ist sogar auch heilende Kraft, denn die altägyptische Medizin zieht keine Grenze zum magischen Wirken, versteht sogar Krankheit als das Wirken von disharmonischen mitunter bösen Kräften, die ausgeglichen, transformiert oder bekämpft werden müssen.
Menschen und Götter
Für die einfachen Menschen in Kemet stand weniger die Verehrung der Götter im Vordergrund, sonder recht unspektakuläre Dinge wie Arbeit, Familie und das soziale Leben. Die Götter waren vor allem dann zuständig, wenn es Schicksalsschläge gab, wie etwa Krankheiten, schlechte Ernten oder Todesfälle, denn die Ursachen dieser Dinge sah man letztendlich in der Sphäre der Netjeru beheimatet, die man entweder mit Opferungen milde zu stimmen suchte oder auch ganz einfach mal bedrohte. Der Mensch ist den Göttern nicht untergeordnet, sondern kann sich im Rahmen des Ritus mit ihnen auf eine Stufe stellen und ihnen sozusagen auf Augenhöhe begegnen. Im Allgemeinen übernahmen dies Priester, die häufig im Grunde das gleiche taten, was heute Ärzte, Psychologen oder Rechtsberater tun würden nur mit dem allgegenwärtigen magischen Geist beseelt, der für die kemetische Kultur so typisch ist. Genauso rief man die Götter an um der Fruchtbarkeit auf die Sprünge zu helfen, dem Schicksal in Liebesdingen oder bei nachbarschaftlichen Streitigkeiten usw. Viele dieser Aufgabenbreiche wurden im Neuen Reich sogar von den Ahnen übernommen, die als eine Art “Sprachrohr” zwischen den göttlichen und menschlichen Sphäre angesehen wurden, was sicherlich auch darin begründet lag, dass sich die Priesterschaft immer mehr zu einer staatlichen Elite augeschwungen hatte, die hauptsächlich dem König zugewandt war und damit auch die Götter in unerreichbare Ferne für den einfachen Kemeten drängte.
Generell muss man wohl zwischen meist sehr bekannten Staatsgottheiten und den “kleinen Volksgottheiten” unterscheiden. Letztere sind natürlich weitaus schlechter dokumentiert. Manche Gottheiten blieben auch vollkommen auf einzelne Gaue oder Städte beschränkt. Kemet war ein multikultureller Schmelztigel aus verschiedensten Völkern die alle ihre eigenen Gottheiten und Kulte mitbrachten und man erkannte recht früh, dass es nur zu innerstaatlichen Unruhen führen würde, wenn man dem Volk seine Gottheiten nahm. So wurden z.B. viele der unbedeutenden Gottheiten als “Gesichter des großen Staatsgottes Amun” deklariert. Ein politischer Schachzug um das Volk religiös zu einen.
Im modernen Kemetismus gibt es Priester nur in organisierten Tempeln, die meisten freien Kemeten haben ihre ganz eigene Art mit den Göttern Kontakt zu halten und umzugehen. Dazu gehört z.B. tägliche Schreinarbeit, das begehen von Festen des kemetischen Jahreszyklus, Ahnenvereherung, Kunst und Poesie und last but not least das Pflegen der kemetischen Gemeinschaft und der Erhalt der Ma'at.